Metzger-Archiv
Ausgewählte
Beiträge aus dem Satire-Magazin DER METZGER
Helmut Loeven
Steinbart-Schote 2013
(Der Metzger 107, September 2013)
Die
Abitur-Entlassungsfeiern werden wieder pompös. Man besinnt sich auf das
Feierliche. Besonders feierlich ging es dieses Jahr auf dem Duisburger
Steinbart-Gymnasium zu: Für die Feier wurde das Stadttheater
angemietet. Um die Feier mit „Inhalt“ zu versehen, wurde
Traditions-Tralala aufgeboten. Die „Patenschaft“ mit dem (seit 1945
nicht mehr realen) Löbenichter „Real“-Gymnasium in „Königsberg“ wurde
wiederbelebt, indem den Abiturientinnen & Abiturienten die
„Alberte“ (neuerdings: „Albertine“) überreicht wurde, eine vergoldete
Nadel, die daran erinnert, daß sich das Institut 1955 zum Deutschen
Osten „bekannte“ (siehe DER METZGER 100). Nicht nur das. Jeder kriegte
das Buch „Das Steinbart-Gymnasium zu Duisburg 1831-1981“ überreicht.
Das
Buch erschien erstmals 1956. Es folgten erweiterte Neuauflagen mit
Beiträgen über die folgenden Jahre. Kern dieses Buches ist weiterhin
die „Festschrift“ aus dem Jahre 1956, verfaßt von Dr. Hans Walther,
Oberstudienrat am Steinbart-Gymnasium bis 1963, danach
Gymnasialdirektor in Wuppertal.
Historiker Walther nutzte die
Gelegenheit, zu zeigen, wie langweilig Geschichte geschrieben werden
kann. Denn es handelt sich im Wesentlichen um einen Bericht über die
Quellenlage. Autor Walther leistete sich Wertungen. Und die hatten es
in sich.
Das fiel dem Steinbart-Abiturienten Leon Wystrychowski auf.
Er entdeckte eine Vielzahl von Ungeheuerlichkeiten in Walthers Text und
nahm Kontakt auf mit der Vereinigung des Verfolgten des Naziregimes –
Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), dem Netzwerk gegen Rechts und der
Jüdischen Gemeinde, und er wandte sich an die Presse. Die WAZ in ihrem
Lokalteil, das Neue Deutschland und die Junge Welt berichteten, ebenso
die Aktuelle Stunde (WDR-Fernsehen regional) und die ZDF-Heute.
„Von
den ermordeten und deportierten jüdischen Schülern war keine Rede,
dafür aber von der ,nationalsozialistischen Revolution’“, wird er in
der WAZ zitiert.
Keine Spur davon, daß der Autor Dr. Hans
Walther den unwissenschaftlichen Begriff „Nationalsozialistische
Revolution“ in Frage stellt (bzw. in Gänsefüßchen setzt).
„Nationalsozialistische Revolution“ ist eine Propagandafloskel, die der
Historiker, wäre er einer, als solche erkennen und bezeichnen würde.
„Nationalsozialismus“ zu sagen, wenn „Faschismus“ gesagt werden müßte,
ist schon ein Euphemismus. „Revolution“ zu sagen ist falsch, wenn schon
der Begriff „Machtergreifung“ die Beschönigung für die Machtübertragung
ist (man könnte es auch Konterrevolution nennen). Vielleicht hatte der
Autor die Absicht, mit dem in seinen Kreisen negativ konnotierten
Begriff „Revolution“ Distanz zu den Nazis vorzutäuschen – dazu bedient
er sich ihrer Terminologie.
Sein wahres Ich kommt zum Vorschein,
wenn er nichts als Schmach an der Novemberrevolution („kommunistischer
Aufstand“) findet, die dadurch in Gang kam, daß Matrosen in Kiel und
Wilhelmshaven sich weigerten, für das Völkergemetzel weiterhin
dienstbar zu sein, während er in einem fort um Verständnis dafür buhlt,
daß das deutsche Volk zu drei bis vier Vierteln dem „Führer“
hinterhergerannt ist, und zwar auch dann noch, als nicht nur die
„wahren Ziele“ der Nazis erkennbar waren, sondern auch ihre
Unerreichbarkeit. Erkennbar waren die „wahren Ziele“ Hitlers von Anfang
an. Darin liegt der Grund für seinen Erfolg. Hitler hatte Erfolg, weil
er den Haß predigte. Mit Erfolg appellierte er an die niedersten
Instinkte, die gelegentlich mit Euphemismen wie „nationale Ehre“
ummäntelt werden.
Wie will er es verstanden wissen, daß der Zweite
Weltkrieg ein „unglückliches Ende“ hatte? Wie hätte der Zweite
Weltkrieg enden müssen, damit Dr. Walther ein glücklicheres Ergebnis
hätte verkünden können? Ich werde den Eindruck nicht los, daß er denen
eine Stimme geben wollte, die dem Führer übelnahmen, daß er sie um den
Sieg betrogen hat.
Er gibt sich zu erkennen als einer von denen, die
sich eine Renaissance der Deutschen Nation als erstrebenswertes
Anliegen vorstellen können, das ohne den böhmischen Gefreiten
vielleicht besser hätte klappen können. Aus dieser Perspektive
betrachtet ist Hitler 1933 aus einer Fliegenden Untertasse gestiegen
und hat alle hypnotisiert. Der „Historiker“ glaubte an das Schicksal.
Für ihn hatte Hitler keine Vorgeschichte, die in der deutschen
Geschichte seit 1815 begründet ist. Er leugnete schlicht, daß der
deutsche Faschismus nicht Verfälschung und Mißbrauch des deutschen
Nationalismus war, sondern dessen Konsequenz und Steigerung.
Die
Vision „ohne Hitler und zusammen mit den Westmächten gegen die Russen“
erfüllte sich nach 1948 – nur eben nicht auf den Schlachtfeldern. Die
Einbindung Westdeutschlands in den Kalten Krieg war gewissermaßen die
Relativierung der Bedingungslosen Kapitulation.
Die am meisten abstoßende Passage in Walthers „Festschrift“ lautet so:
„Ein
weiterer Schüler dieses Abiturjahrgangs [1928] begegnet mehrfach in der
politisch-historischen Literatur: Heinz-Harro Schulze-Boysen […] Zur
Zeit des Hitlerreiches stand er im Lager der kommunistischen
Opposition. Zusammen mit dem Oberregierungsrat im
Wirtschaftsministerium Arvid Harnack organisierte er als Oberleutnant
im Luftfahrtministerium seit 1940 die Verschwörung der von Moskau aus
gesteuerten sogenannten ‚Roten Kapelle‘. Diese sah ihre Hauptaufgabe
darin, die russische Führung mit wichtigen militärischen Nachrichten zu
versorgen ‚unter hemmungsloser Ausnutzung amtlich erworbener
Spezialkenntnisse‘. Über den landesverräterischen Charakter dieser
Organisation läßt Gerhard Ritter nicht den geringsten Zweifel. 1942
wurde das Komplott aufgedeckt. Der ‚in einwandfreier Form‘
durchgeführte Prozeß vor dem Reichskriegsgericht endete mit der
Hinrichtung vieler Beteiligter, auch der Schulze-Boysens. Keinerlei
Beziehung zu dieser landesverräterischen Gruppe hatte der Admiral
Wilhelm Canaris (Abiturient von 1905).“
Das ist nicht ganz richtig.
Canaris hatte durchaus eine „Beziehung“ zur Roten Kapelle. Seine Abwehr
half mit, Schulze-Boysen und seine Freunde an den Galgen zu bringen.
Hitler
und seine Partei sind nicht aus eigener Kraft nach oben gekommen. Sie
wurden an die Macht gehoben – gefördert und geduldet von dem
konservativen, national gesinnten deutschen Bürgertum, dessen Tuis nach
1945 die Geschichtsbücher schrieben. Dabei galt es, sich von Irrtum,
Schuld und Mitschuld, Beihilfe, Versagen reinzuwaschen – durch ein
geradezu pathologisches Festhalten an der Rechtfertigung des eigenen
Versagens, das einzugestehen diese Versager vor der Geschichte nicht
den Mumm hatten. Die Existenz einer mutigen Opposition gegen den
Faschismus war die Widerlegung des bürgerlichen Opportunismus, ein
„Stachel im eigenen Fleisch“. Also hieß es, diese zu verschweigen oder
zu verunglimpfen. Der Starrsinn derer, die zu Hitler eine
opportunistische Beziehung pflegten, wird vollends zur Niedertracht,
wenn sie den Widerstand als Landesverrat denunzieren und auf die Gräber
der Ermordeten spucken.
Die Beschwichtigungsformel, bei dem Machwerk
handle es sich doch eben nur um ein „authentisches Zeitdokument“,
überzeugt nicht. Die darin zum Vorschein kommende Sichtweise mag noch
so sehr üblich gewesen sein zu ihrer Zeit, falsch war sie trotzdem. Ein
Zeitdokument, in der Tat, das Aufschluß gibt über den Geistes- und
Gemütszustand eines Landes, das aus Faschismus und Weltkrieg nichts
gelernt hat.
In der Berichterstattung war die Rede von „teils
unkommentierten Zeitdokumenten aus der NS-Zeit“ (Alfons Winterseel in
der WAZ), „Abiturienten des Duisburger Steinbart-Gymnasiums bekamen zum
Abschied feierlich Nazi-Propaganda überreicht. (Marcus Meier im Neuen
Deutschland). Ist das nicht etwas unpräzise? Keine Zeile des Buches ist
vor 1945 geschrieben worden. Es handelt sich doch eher um den typischen
Blick des Bürgertums der 50er Jahre auf die Nazizeit.
Doch halt! Was
da über die Rote Kapelle zu lesen ist: „von Moskau aus gesteuert“, „sah
ihre Hauptaufgabe darin, die russische Führung mit wichtigen
militärischen Nachrichten zu versorgen“, entspricht nicht der Wahrheit
und ist der Anklageschrift entnommen, die der Staatsanwaltschaft von
der Gestapo diktiert wurde. Die offizielle Geschichtsschreibung der
50er Jahre wurde aus Gestapo-Akten abgeschrieben.
Der Unterschied zwischen konservativer und faschistischer Propaganda wird undeutlicher, je genauer man hinschaut.
Die
Intervention des Steinbart-Abiturienten Leon Wystrychowski hat Folgen.
Schulleiter Ralf Buchthal räumte ein, man habe „eine Tradition über die
Jahre unreflektiert mitgeschleppt. Wir nehmen das sehr ernst. Das Buch
über die Geschichte der Schule wird so auch nicht mehr verteilt werden.
Nach den Ferien werden wir uns mit dem VVN zu einem konstruktiven
Dialog treffen.“