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Ausgewählte Beiträge aus dem Satire-Magazin DER METZGER


Jakop Heinn:

Börsenboom: Reiben am Thermometer


(Der Metzger 60 – Juli 2000)


Der Daudschons steht irgendwo bei 10.000 und der Dachs bei 7.000. Stimmt's? Ich hab mir das nicht gemerkt. Es wird mir aber täglich eingehämmert, weil ich vergesse, wegzuzappen, wenn Nachrichtensendungen kommen. Es gibt aber Leute, die wissen genau, auf wieviel der Börsenindex just in dieser Minute steht. Zum Beispiel die beiden heute hinter mir in der Schlange vor der Kasse im Supermarkt. Vorbei die Zeit, in der man noch Eindruck schinden konnte, indem das Händi in der Straßenbahn losdüdelte. Heute hat ja schon jede Putzfrau und jedes Schulkind ein Düdelhändi. Also muß man in der Supermarktschlange referieren, daß der Dax gestern auf 7.135 stand, vorgestern noch auf 7.339, aber heute Nachmittag wieder auf 7.294 geklettert ist, um sich einzubilden, anderen wichtig vorzukommen.

Die Leute wissen zwar, daß der Dachs vorhin wieder um 9 Punkte gefallen ist. Wissen die auch, was eine Aktie ist oder wie eine Aktiengesellschaft organisiert ist oder wie ein Aufsichtsrat zustande kommt und was er zu bestimmen hat? Können die eine Bilanz lesen und zwischen Rücklage und Rückstellung unterscheiden oder erklären, was „Umlaufvermögen“ heißt? „Ich weiß nicht, was eine Aktie ist, ich weiß nicht, wer das weiß. Ich kenne nur ihren Preis.“

Mittlerweile werden in der Radiowerbung weniger die Produkte eines Unternehmens angepriesen, sondern deren Aktien. Irgendwann wird man ungläubig die Botschaft vernehmen, daß man mit Telekom auch telefonieren kann.

Der Aktienhandel funktioniert etwa so: „Hier habe ich einen Fünfzigmarkschein. Wenn Sie mir 60 Mark geben, gehört er Ihnen.“ Es hat eigentlich keinen Sinn, 60 Mark für einen Fünfzigmarkschein zu geben. Es sei denn, man kann damit rechnen, einen zu treffen, der 70 Mark dafür gibt, in der Hoffnung, ihn für 80 Mark loszuwerden. Und so weiter. Bis der, der 90 Mark dafür gegeben hat, froh sein kann, noch 40 Mark dafür zu kriegen. Der Fünfzigmarkschein ist die ganze Zeit ein Fünfzigmarkschein gewesen.

Erinnern Sie sich noch daran, wie fast die ganze albanische Bevölkerung mittels Kettenbriefen ein Volk von Millionären werden wollte und dann dumm aus der Wäsche guckte? Man schüttelte den Kopf über so viel Naivität. Da sind wir ganz anders. So doof sind wir nicht. Wir kaufen Fünfzigmarkscheine für 100 Mark das Stück.

Was der Aktie den guten Ruf als Geldanlage einbrachte, war ihr Gegenwert, das in Wirtschaftsunternehmen investierte und gewinnabwerfende Kapital. Käme man mal auf die Idee, den Kurswert der Aktien mit der Anzahl der ausgegebenen Anteilscheine zu multiplizieren, dann müßte so manche Internet- oder Software-Klitsche mehr wert sein als Siemens und Daimler zusammen. Wenn der Kurswert einer Aktie ein Barometer der Gewinnerwartung eines Unternehmens ist, dann erwarten deutsche Geldanleger anscheinend, daß die Gewinne in diesem Jahr sich um das zigtausendfache steigern. Dabei boomten an der Börse auch schon Aktien von Unternehmen, die Kopierpapier nur noch gegen Vorauszahlung geliefert kriegen. Nein, unser Beispiel trifft nicht ganz die Lage. An den Börsen werden nicht Fünfzigmarkscheine für 60 Mark verkauft. sondern man verpfändet Haus und Hof, um Fünfmarkstücke für 200 Mark zu kaufen. Und das nur, weil man nicht als Warmduscher oder Indersaunauntensitzer gelten will, der seine Notgroschen auf dem Sparbuch hat. (Warum schmeißen die Leute eigentlich nicht ihr Portemonnaie weg? Das bringt nämlich gar keine Zinsen). Die Aktienseligkeit gleicht dem Versuch, durch Reiben am Thermometer besseres Wetter zu bekommen.

Irgendwann wurde verkündet, daß die Renten einst nicht ausreichen werden für die Altersversorgung. Dieser Offenbarungseid der Sozialpolitik hat die Verantwortlichen nicht den Kopf gekostet, sondern die Betroffenen sich befreit fühlen lassen von Zwang, Bevormundung und Anspruchsmentalität. Jedenfalls wählen sie immer wieder Politiker, die sie mit derlei bequaken. Endlich befreit aus den Fesseln von Tarifverträgen und sozialem Besitzstand wird Otto Normalverbraucher zum Aktionär. In seiner Badewanne ist er Wirtschaftskapitän.

In den 60er Jahren wurde die Idee geboren, Arbeitnehmer durch Belegschaftsaktien am Kapital ihres Arbeitgebers zu beteiligen. Das wurde damals noch nicht von der penetranten Shareholder-Phraseologie begleitet, aber es war ohnehin nicht der Stein der Weisen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Obdachlose im Duisburger Norden noch eine Thyssen-Aktie besitzen, für die sie einmal im Jahr 4 Mark Dividende kriegen, die ihnen womöglich noch von der Sozialhilfe abgezogen werden. Was damals noch als Akt sozialer Politik gedacht war, soll heute die Sozialpolitik ersetzen. Doch eher wird ein Strohhalm einen Nichtschwimmer vor dem Ertrinken retten als der Besitz von Millionstel-Anteilen die Altersversorgung sichern könnte. Denn der Börsenboom funktioniert nach dem Prinzip der Kettenbriefe. Die hohen Kurse sind eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Und die Kurse werden hochgehalten durch das Geld, das an die Börse fließt. Sollen sie oben bleiben, müßte die Börse weiterhin mit enormen Geldzuflüssen gefüttert werden. Bevor die Kurse dann in den Keller fallen, ist das Geld dorthin geflossen, wo es sich seit je konzentriert.

Die Börsenfachleute in der Supermarktschlange wußten, was sie hätten tun müssen: „Wenn ich vorgestern verkauft hätte...“ „Wenn ich gestern gekauft hätte...“ Ja, wenn ich vorige Woche die sechs Kreuze woanders hingemalt hätte... Ja, hättet ihr vorgestern verkauft und gestern gekauft, hättet ihr jetzt das Geld, das ihr übermorgen verlieren würdet. Im Fernsehen habe ich einen 18jährigen Daytrader gesehen, der am PC von einer Minute auf die andere Aktienpakete hin- und herschiebt und schon vier- oder fünfmal eine Million einsackte. „Ja, ich bin ein kleiner Turbokapitalist“, verkündete er großmäulig. Ein kleines Arschloch bist du. Aber der Mini-Turbo, der gestern die Million kassierte, von denen heute 999.999 futsch sind, erfüllt Warhols Vision in einer neuen Variante. Der New Yorker Factory-Künstler prophezeite, am Ende des 20. Jahrhunderts wird jeder mal für eine Viertelstunde berühmt sein. Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist jeder mal für eine Viertelstunde Multimillionär.

Tucholsky wußte zu seiner Zeit schon Rat: Alle sozialen Probleme, so meinte er, wären mit einem Schlag zu lösen, indem wir alle reich heiraten. Was er damals karikierte, ist die Naivität der Leute von heute, die die Aktienkurse auswendig können.