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Ausgewählte Beiträge aus dem Satire-Magazin DER METZGER



Sittlichkeit und Kriminalität


(Der Metzger 87, Oktober 2009)


Verfolgende Unschuld

von Lina Ganowski


Der Kommentator im Radio brauchte nicht viel Sendezeit. Die Verhaftung des polnisch/französischen Filmregisseurs und Schauspielers Roman Polanski sei „befremdend“. Bei einer Auslieferung in die USA sei sehr zu bezweifeln, daß dort ein faires Verfahren stattfinden werde.

Dies gesagt, meinte er aufschäumen zu können. Er sei eben nicht nur Kommentator, sondern auch Vater. Es wundere ihn, daß die allgemeine Empörung über Sexualstraftaten in manchen Fällen aussetzt, so im Fall eines Jugendlichen, dem in der Türkei der Prozeß gemacht wurde, weil er mit einer 13jährigen Urlauberin herumgefummelt hatte – und so auch im Falle des weltberühmten Filmemachers, der vor über dreißig Jahren in den USA an einem ebenfalls 13jährigen Mädchen sexuelle Handlungen vollzogen hat (was im Prinzip nicht bestritten wird). Wir dürften aber – sagte der Kommentator – nicht „mit zweierlei Maß messen“. Pädophilie sei nun einmal ein Verbrechen und dürfe nicht verjähren.

Der Kommentator, der glaubt, daß er als Vater die Lizenz besitzt, von allen guten Geistern verlassen zu sein, hat in seinem kaum zweiminütigen Kommentar zuhauf Widersprüche und Ungenauigkeiten untergebracht, wie es schier unvermeidlich ist, wenn die Öffentlichkeit mit dem Geschlechtlichen konfrontiert wird.

Unrichtig ist die Behauptung, daß Pädophilie ein Verbrechen ist. Sie wäre selbst dann unrichtig, wenn Pädophilie per se strafbar wäre, denn es wäre utopisch, anzunehmen, daß Verbrechen und gesetzlich bestimmte Strafbarkeit kongruent wären, wie schon ein Blick in die deutsche Rechtsgeschichte deutlich macht. Manches „Verbrechen“ wurde aus den Gesetzen gestrichen (Homosexualität, Ehebruch, Kuppelei, Rassenschande), und zwar deshalb, weil der Gesetzgeber einsehen mußte, daß solcherlei „Verbrechen“ keine Verbrechen waren, als sie noch gesetzlich geahndet wurden.

Aber von solchen rechtsphilosophischen Betrachtungen abgesehen: Pädophilie ist nicht strafbar. Strafbar sind nur pädophile Handlungen, wenngleich der Gesetzgeber nicht weit davon entfernt ist, Pädophilie an sich zu ahnden, indem er etwa auch den Besitz kinderpornografischer Darstellungen als Straftat definiert, wobei weder auf die Darstellungsweise geachtet wird noch auf die Frage, ob kinderpornografische Darstellungen die Gefahr von sexuellen Übergriffen auf Kinder heraufbeschwören oder ob nicht vielleicht das Gegenteil der Fall ist.

Doch mit alledem hat der Fall Polanski nichts zu tun. Roman Polanski ist nicht als Pädophiler tätig geworden, und das „Opfer“ war kein Kind, sondern ein Teenager. Immer dann, wenn bekannt wird, daß 13jähriges Mädchen in sexuelle Handlungen verwickelt waren, fällt auf, daß sie auf einem höheren körperlichen und geistigen Entwicklungsstand waren. An 13jährigen Mädchen, die „eher auf 16 geschätzt“ werden können, hat der Pädophile nun mal gar kein Interesse.

Die 13jährige ist nur formell noch ein Kind, weil das Gesetz – ohne Rücksicht auf individuelle Entwicklungsunterschiede – den 14. Geburtstag als das Ende der Kindheit definiert. Doch mit der Pubertät ist die Kindheit beendet. Wer selber Kinder kriegen kann, ist kein Kind.

Der Kommentator versteigt sich völlig mit seiner Idee, Straftaten wie die, von der er redet, dürften nicht verjähren.

Im deutschen Strafrecht gibt es nur eine Straftat, die von der Verfolgungsverjährung ausgenommen ist, nämlich Mord, also ein Tötungsdelikt, bei dem über den Vorsatz hinaus die besonderen Mord-Merkmale vorliegen (niedere Beweggründe, Heimtücke, Grausamkeit, gemeingefähliche Mittel u.a.). 1965, 20 Jahre nach dem Ende des Naziregimes, wären alle Naziverbrechen verjährt. Der Bundestag entschied damals, den Beginn der Verjährungsfrist auf das Jahr 1949 festzusetzen, weil erst da die Bundesrepublik begonnen habe, Naziverbrechen zu verfolgen, so daß die Verjährungsfrist zunächst 1969 geendet hätte. Die Annahme, in der kurzen Frist von vier Jahren das Nazi-Unrecht juristisch aufarbeiten zu können, erwies sich als trügerisch. Um Naziverbrechen auch weiterhin juristisch verfolgen zu können, wurde als Notlösung 1969 die Verjährung für Mord generell aufgehoben. Diese Regelung hat einen unangenehmen Beigeschmack: Sie wirkt sich auf Straftaten aus, die mit den Naziverbrechen nichts zu tun haben, andererseits erfaßt sie nur solche Naziverbrechen, die sich unter den Tatbestandsmerkmalen des Mordes erfassen lassen. Der Gesetzgeber erwies sich als unfähig (und unwillig), Naziverbrechen (und zwar alle) als besondere Art der Kriminalität zu behandeln, die sich von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt (siehe DER METZGER Nr. 31). Auf dieses rechtsphilosophisch fragwürdige Gebiet begibt sich der Kommentator, wenn er meint, das Gesetz solle die Erregtheit bedienen, die sich bei sexuellen Sachen einstellt.

Die Ermahnung, daß nicht mit zweierlei Maß gemessen werden dürfe, ist scheinheilig. Oft hört man sie, wenn jemand damit unzufrieden ist, daß einer ungeschoren oder mit einem blauen Auge davonkommt. Gerechtigkeit ist dann, wenn es allen gleich dreckig geht?

Internet-Blogger geben der Erregtheit eine Stimme: „Können Künstler keine Kriminellen sein, weil sie gute Filme machen? Sollen wir sie moralisch anders beurteilen als den anonymen armen Schlucker?“ Ein Schritt weiter, und man ist beim Gesunden Volksempfinden: Die Petitoren, die sich für Polanski einsetzen (Woody Allen, Wim Wenders, Monica Bellucci, Costa-Gavras, Tilda Swinton, Martin Scorsese, David Lynch, Pedro Almodóvar, Etore Scola, Tom Tykwer u.v.a.) kann man endlich mal als „politisch-kulturelle Schickimicki-Szene“ anschmieren. Daniel Cohn-Bendit, der immer weiß wie die Fahne flattert, hatte den richtigen Riecher „Wenn ein Mädchen von 13 Jahren sexuell mißbraucht wird und man davonkommt, nur weil man eine Kaution zahlen kann, dann weckt das bei mir ein ungutes Gefühl“ – so ungut wie die Gefühle derer, die seinerzeit an Darstellungen von kindlicher Sexualität in seinem Buch „Der große Basar“ Anstoß nahmen.

Auf die Idee, die Sache umzudrehen, um einen Schuh draus zu machen, sollte mal jemand kommen: Auf den anonymen armen Schlucker so aufmerksam zu sein wie auf einen Prominenten.

Wo der Kommentator den Weg gewiesen hat, schreiten die Leserbriefschreiber, denen kein Leserbriefredakteur einen Riegel vorschiebt. Das Tabu sexueller Aktivität mit und von 13jährigen wird ausgeweitet: Über „Sex mit Minderjährigen“ erregt man sich schon. Sex erst ab 18? Einer klagt an, daß Roman Polanski mit einer Frau verheiratet ist, die viel jünger ist als er (Da sieht man‘s doch gleich...). Kein Sex mit Jüngeren? Kein Sex in der Ehe bei unbotmäßigem Altersunterschied?

Als das Fotomodell Kate Moss auftauchte, erregte man sich darüber, daß diese erwachsene Frau auf den Fotos aussah wie eine 17jährige – und erblickte darin ein „Angebot an die Pädophilen“. Also kein Sex unter 40?

Gar kein Sex – das ist die Quintessenz der Erregtheit. Glaubte man, die unerträgliche Entdeckung kindlicher Sexualität mit dem Pädophilie-Hype gebannt zu haben, will man gleich den ganzen irritierenden Schweinkram hinterherschmeißen.

Woher weiß der Cohn-Bendit eigentlich, daß der Mißbrauch ein Mißbrauch war? Das „Opfer“ von Polanskis Übergriff, heute eine 40jährige Mutter von drei Kindern, hat mehrmals darum gebeten, den Fall ruhen zu lassen, sie hege gegen den Beschuldigten keinen Groll. Und sie gab bekannt: Nicht so sehr der Übergriff von Polanski habe ihr zugesetzt, dafür aber viel mehr die Verhöre, denen sie danach unterzogen wurde.

Ihre Stimme verhallt, denn für die verfolgende Unschuld bleibt sie das unmündige Objekt. Nicht sie wird geschützt, wenn die Justiz sich der Sexualität annimmt. Nicht sie soll geschützt werden, und schon gar nicht ihre Selbstbestimmung, sondern eine Ordnung, in der das Sexuelle immer ein Fremdkörper bleibt.


***


Roll back

von Helmut Loeven


Ginge es nach denen, die Roman Polanski im Gefängnis sehen wollen, wäre ich ein Verbrecher. Ich hatte auch mal was mit einer 13jährigen. Ich war damals 23. Zwei meiner Freundinnen waren, als es anfing, 14 Jahre alt (ich war 19 bzw. 24). Beide Male wußten ihre Eltern davon und ließen uns in Ruhe. Mit beiden verband mich danach eine lange, enge, intime Freundschaft. Mit der 13jährigen hatte ich zehn Jahre später nochmal ein heftiges Zusammentreffen. Mit 14 verließ sie ihr Elternhaus (es wurde die höchste Zeit), und sie lebte danach in einer Kommune. Sie war eine von den vielen, die gezwungen waren, früh erwachsen zu werden.

Ich habe den Anfang der Kommunebewegung erlebt (und auch ihr Ende). Das war zu Zeiten, als man erst mit 21 volljährig wurde. Viele der Kommunarden waren „minderjährig“. In Kommunen lebten 15jährige Mädchen. Ein weiteres Zusammenleben mit ihren Eltern wäre ihnen nicht zumutbar gewesen.

Der Generationenwechsel in den 60er und 70er Jahren war so fundamental, daß ein Bruch vollzogen werden mußte. Er wurde vollzogen von einem Teil der erwachsenwerdenden Generation, von einer Avantgarde, wirkte sich aber auf die ganze Generation, schließlich auf die ganze Gesellschaft aus. Einen solchen Bruch hatte es in der Geschichte noch nie gegeben. Er war notwendig um des Lebens und um der Menschenwürde willen. Die tradierten Lebenspläne und Wertvorstellungen waren nicht annehmbar. Nach den tradierten Wertvorstellungen galt jeder natürliche Lebensimpuls als kriminell.

Die in den Kommunen lebenden, noch nicht volljährigen Frauen lebten zumeist in festen Zweierbeziehungen. Sexuelle Beziehungen von kurzer Dauer und Promiskuität kamen vor, waren aber die Ausnahme. Die in den Kommunen lebenden Frauen waren sexuell aktiv, auch wenn sie noch nicht 21, 18 oder 16 Jahre alt waren, obwohl das Anstandsempfinden der gesitteten Gesellschaft sich im Gesetz noch wiederspiegelte. Sie wurden zu sexuellen Aktivitäten nicht gezwungen und nicht genötigt. Sie wurden durch sexuelle Handlungen nicht in ihrer Selbstbestimmung beeinträchtigt. Für die, die bis auf den heutigen Tag versuchen, der Gesellschaft ein sexuelles roll back aufzuzwingen, mußten sie als Opfer gelten, die vor „allzuviel Freiheit“ (also vor sich selbst) geschützt werden mußten. Doch als Zwang, als Nötigung, als Verletzung ihrer Selbstbetimmung hätten sie es erlebt, wenn man sie von sexueller Aktivität (von der die sexuelle Passivität ein Teil ist) abgehalten hätte. Das wäre nur mit Gewalt möglich gewesen.

Es wurde gesagt, daß gesetzliche Sanktionen, die sexuelle Aktivität Minderjähriger verhindern sollten, ja eigentlich dazu dienten, Übergriffe auf Abhängige zu verhindern. Das war doch an den Haaren herbeigezogen. Da wurde ein Randphänomen in die Mitte gezerrt, um Regeln und Gesetze zu rechtfertigen, mit denen Jugendlichen das Recht auf sexuelle Entfaltung streitig gemacht werden sollte. Die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts vollzieht sich gerade dadurch, daß Teilnehmer an sexuellen Handlungen in Täter und Opfer eingeteilt werden, daß Jugendlichen die sexuelle Mündigkeit streitig gemacht wird und daß sie, indem man sie als Opfer definiert, entmündigt werden. Eigener Wille und Einvernehmlichkeit wird da nicht anerkannt. Wer beschützt die Schützlinge vor ihren Beschützen?

Eine Freundin erzählte mir, was ihre 9jährige Tochter ihr berichtet hatte: Sie war mit einer Schulfreundin auf dem Weg von der Schule nach Hause. „Und da kam so‘n Mann, der hat sein Pimmelchen gezeigt. Der war vielleicht doof!“ Damit war für das Kind die Sache erledigt. Der Mann war für das Kind nicht ein Verbrecher, nicht ein „Unhold“, sondern schlicht ein Blödmann. Fertig.

Wenn ich mich ‚korrekt‘ verhalten hätte, hätte ich meine Tochter zu so einer Emanzengruppe schleppen müssen, und die hätten sie doch erst richtig traumatisiert.“ Ich sagte: „Die hätten deine Tochter so lange in die Mangel genommen, bis sie gestanden hätte, schockiert gewesen zu sein.“

Wenn mir gewahr wurde, daß irgendwo auf der Welt sich eine sexuelle Handlung vollzogen hat, an er sich eine 13jährige beteiligte, dann regte mich das nicht mehr auf als das Fahrrad, das in China umgefallen ist. So sehe ich das auch heute noch. Ich habe mich nämlich auch in dieser Hinsicht nicht korrumpieren lassen.