Metzger-Archiv
Ausgewählte Beiträge aus dem Satire-Magazin DER METZGER
(Der Metzger 94, März 2011)
Wer kann die
Pyramiden überstrahlen?
Den Kreml,
Sanssouci, Versailles, den Tower?
Von allen
Schlössern, Burgen, Kathedralen
Der Erdenwunder
schönstes war die Mauer.
Mit ihren
schmucken Türmen, festen Toren.
Ich glaub, ich
hab mein Herz an sie verloren.
Peter Hacks
Am 6. Oktober 1961, vor 50 Jahren, war in der Frankfurter Allgemeinen zu lesen: „Noch in ihrem bisher kräftigsten Unternehmen haben diese Schriftsteller nachdrücklich bewiesen, daß für viele von ihnen die Beschäftigung mit dem Zustand unserer Republik nichts anderes ist als der Drang, um sich zu schlagen und den Krieg Zuständen zu erklären, die sie selber so dämonisieren, daß man sich fragt, was für Vorteile diese Republik gegenüber der Ulbrichts noch habe. Wir sehen bei ihnen unsere Republik nicht mit den Augen der Kritik, sondern mit denen des Hasses betrachtet.“
Was war das bis dahin kräftigste Unternehmen dieser Schriftsteller gewesen, wodurch hatten sie sich das Attest eingehandelt, „unsere Republik“ mit den Augen des Hasses zu betrachten?
Zwanzig Autoren hatten in einem gemeinsamen Aufruf den Bürgern der Bundesrepublik empfohlen, bei der Bundestagswahl am 17. September ihre Stimme für die SPD abzugeben. Das war ein kräftiges Unternehmen. Ein starkes Stück! Sie konnten sich einen besseren „Zustand unserer Republik“ vorstellen als daß Adenauer Bundeskanzler bleibt. Ein Jahrzehnt nach der Einführung der zweiten bürgerlich-demokratischen Verfassung hatte diese Demokratie gerade das Niveau erreicht, daß die Aufforderung, eine nicht regierende Partei zu wählen, als Symptom des Hasses auf „unsere Republik“ gewertet wurde.
Tatsächlich ist dieser Kommentar der FAZ ein Symptom dafür, daß die Bundesrepublik sich in keinem normalen Zustand befand. Es ist ohnehin fraglich, ob deutsche Zustände jemals das Prädikat der Normalität verdient haben. Deutschland hat das Niveau einer normalen bürgerlich-liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts nie erreicht. Stattdessen waren immer Gesellschaftskonzepte mehrheitsfähig, die gegen Freiheit und Gleichheit gerichtet waren.
Die Abnormalität war besonders gesteigert in dem Jahr, in dem die Berliner Mauer gebaut wurde. Wer sich erinnert, der weiß noch, daß der 13. August nicht in eine stille Beschaulichkeit hineinplatzte. Es herrschte eine erhitzte, eine überhitzte Stimmung im Westen. Es war eine Saison der Brandreden. Die von „Wiedervereinigung“ sprachen, vom „unteilbaren Deutschland“ und von den Brüdernundschwestern, waren von dem Empfinden angetrieben, die Entscheidungsschlacht über die DDR wäre nun im Gange, die DDR wäre sturmreif, es wäre eine Sache von Wochen, bis die DDR der Bundesrepublik als Beute in die Hände fiele. Die Brandredner wollten mehr. Sie wollten die „Ostgebiete“ zurück, sie wollten die Grenzen verschieben. Sie wollten Vertreibung. Sie wollten das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges revidieren. Sie wollten Atomwaffen für die Bundeswehr. Sie hatten keine Skrupel, die Flammen, die von deutschen Kriegsverbrechern entzündet worden waren und in denen das Deutsche Reich verbrannt war, wieder auflodern zu lassen. Der Springer-Kolumnist William S. Schlamm schlug gar vor, Westberlin zu evakuieren, um die DDR mit Atombomben auszulöschen. Berlin sei einen Krieg wert. Wer so etwas schreibt, ist ein Verbrecher.
Der NDR zitierte in einer Rundfunkreportage am 10. Oktober 1961 einen DDR-Bürger: „Was ist denn mit eurer Politik der Stärke? Warum habt ihr denn aufgerüstet, wenn ihr nicht mit der Armee von Ulbricht fertig werdet? Lieber im Atomkrieg zugrunde gehen als unter Ulbricht weiterleben.“ Wer so etwas sagt, ist ein Idiot.
Wer sich erinnert, wird nicht ruhigen Gemütes von der Hand weisen können, daß im Sommer 1961 der Frieden in Europa in Gefahr war.
Auch daran ist zu erinnern: Nach dem 13. August prangerte die Bildzeitung in Riesenlettern „den Westen“ an: de Gaulle und MacMillan hatten am 13. August keinen Anlaß gesehen, ihren Sommerurlaub zu unterbrechen. Kennedy schickte seinen Vizepräsidenten Johnson, der auch nicht viel mehr von sich gab als Worte der Betroffenheit. Die Amerikaner ließen Panzer durch Berlin rollen, aber die stoppten vor der (nunmehr befestigten) Grenze zum sowjetischen Sektor.
Das hätte man mitkriegen können: Die USA hatten der Sowjetunion signalisiert, sie würden stillhalten, wenn Westberlin vom sowjetischen Sektor abgeriegelt würde. Der US-Außenpolitiker Senator Fulbright hatte in einem Interview Moskau geradezu gedrängt, die gefährliche Lage in Berlin doch endlich zu beenden. Er könne es gar nicht verstehen, daß Moskau da nicht einen Riegel vorschiebt. Ja, es stimmt, wenn gesagt wird: An der Berliner Mauer hat der Westen mitgebaut.
Zwar hat der Westen, wie sich erwiesen hat, niemals das Ziel aufgegeben, das er mit dem roll back zu erreichen versucht hatte. Der Westen sah sich aber gezwungen, sein Endziel aufzuschieben. Als Übergangsphase sollte nun die Entspannungspolitik beginnen. Dem Westen wurde die Entspannungspolitik aufgezwungen (das muß auch jeder Pazifist begreifen) durch die militärische Stärke der Sowjetunion. Das atomare Patt konnte vielleicht ein Umweg sein zur totalen atomaren Abrüstung (stets das Ziel sowjetischer Sicherheitspolitik). Ein atomares Monopol des Westens aber hätte nicht zur Abrüstung geführt, sondern zum Atomkrieg.
Zwei Daten markieren den Beginn der Entspannungspolitik: die Kubakrise 1962, als die USA ihre Mittelsteckenraketen aus der Türkei zurückziehen mußten – und der Bau der Berliner Mauer. Die Entspannungspolitik endete mit dem NATO-Doppelbeschluß. Die Phase der Entspannungspolitik war jene Zeitspanne, in der der Westen nicht in der Lage war, einen Atomkrieg zu gewinnen.
„Unsere Staatsmänner in Bonn haben die Sowjets nicht für Menschen, sondern für entartete Teufel eingeschätzt. So waren sie nicht imstande, sich selbst in Gedanken an die Stelle des Gegners zu versetzen und sich zu fragen, was sie an seiner Stelle wohl tun würden... Das erste Erfordernis aber, um richtige Politik zu machen, besteht darin, in die Haut des Feindes zu schlüpfen“, schrieb Rudolf Aufstein 1961 im Spiegel, und er fügte hinzu: „Spätestens 1965 würde die Bundeswehr potent genug sein, um bei fortdauernd umstrittenen Grenzen die westliche Koalition in spontane oder provozierte Konflikte zu verwickeln... Die Sowjets glauben nicht daran, daß den Deutschen die Verfügungsgewalt über Atomwaffen auf Dauer vorenthalten wird. Sie glauben nicht an Beteuerungen, solange sich das Potential auf deutschem Boden häuft. Sie haben, um ehrlich zu sein, auch wenig Grund, deutschen Beteuerungen zu glauben. Es drohte also eine Situation, in der die Sowjets von den Deutschen um die Früchte ihres Sieges über Hitler gebracht werden könnten. Es drohte eine gewaltsame Revision des Sieges von 1945, und zwar von Seiten des Besiegten.“ Heinrich Böll in der Welt in ungewohnt gereiztem Ton: „Sie fragen, ob uns etwas aufgeht. Mir geht etwas auf: daß die Politik der Stärke sich als die schwächste aller möglichen erwiesen hat.“
Im Rückblick kann man nur zu dem Schluß kommen: Durch die Berliner Mauer wurde zunächst eine brandgefährliche Situation entschärft, auf die Dauer zwang sie zu einer Mäßigung der westlichen Zurückdrängungspolitik. Die Phase der Entspannungspolitik war ohne die Berliner Mauer nicht denkbar. Sie brachte Sicherheit, sie war eine tragende Wand der europäischen Friedensordnung. Im Rückblick ist es unverständlich, daß ein Schriftsteller wie Hans Werner Richter in einem Appell an Chruschtschow meinte, die Grenzsicherung der DDR in Berlin hätte den Frieden gefährdet. Sie hat den Frieden gerettet.
Die Tragödien, die mit der Berliner Mauer und überhaupt mit der deutschen Teilung verbunden waren, sind nicht zu leugnen und nicht zu bagatellisieren. Gleichwohl wurde durch den Mauerbau eine Phase der Sicherheit und Koexistenz eingeleitet. Berlin war kein Krisenherd mehr. Die DDR konsolidierte sich, der Lebensstandard stieg mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die Bürger der DDR hatten einen höheren Lebensstandard als 90 % der Weltbevölkerung. Die kalkulierte Abwerbung von Fachkräften war unterbunden, die Sabotageakte gegen Betriebe in der DDR, bis zum 13. August 1961 an der Tagesordnung, waren erschwert.
Auch für die Menschen in der Bundesrepublik verbesserte sich die Lage. Sie konnten ruhiger schlafen, weil die Gefahr, daß von deutschem Boden Krieg ausgeht und auf deutschem Boden Krieg beginnt, verringert war. In die westdeutsche Politik kehrte Nüchternheit ein, langsam aber sicher gewannen die Stimmen an Gewicht, die für Koexistenz und sogar Kooperation plädierten. Die, denen der Frieden den Schlaf raubte, waren in ihren Möglichkeiten eingeschränkt. Willy Brandt hätte nicht „mehr Demokratie wagen“ können, wenn die Ostlandreiter weiterhin so hätten wüten können wie bis zum 13. August 1961.
Es hat diesem Land, seinen Menschen und seiner Kultur gutgetan, daß Erich Honecker als Staatsgast empfangen wurde (bei dieser Gelegenheit erklärte er, daß die Mauer eines Tages überflüssig werden könnte). Es war gut, den Sprachfehler zu kurieren, daß westdeutsche Politiker die Lautfolge D-D-R nicht zustandebrachten, und daß die Albernheit aufhörte, bei Sendungen über Olympiaden beim Erklingen der DDR-Hymne sich in die „Tonstörung“ zu flüchten. Der Brecht-Boykott westdeutscher Bühnen fiel, man konnte im Westfernsehen DEFA-Filme und DDR-Fernsehproduktionen sehen. Mit den Gänsefüßchen fiel auch die Dämonisierung. Es wurde sichtbar, daß die DDR manches vorzuweisen hatte, wovon man in der Bundesrepublik kaum zu träumen wagt.
Die DDR war eine „große Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung, die verteidigt werden muß“ und ein „großes gesellschaftliches Experiment, das fortgesetzt werden muß“. Das sagte einer, der heute auch nicht mehr wissen will, daß er das mal gesagt hat.
Diese Einschätzung ist ohne Abstriche kaum aufrecht zu erhalten. Wenn die DDR eine Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung war, hatte sie sie nicht selbst erringen, wohl aber verteidigen müssen. Und die Experimentierfreude in der DDR war nicht allzu groß (um es gelinde zu formulieren). Aber ein anderer Sozialismus war gerade nicht da, und darum war er gut (sagte der, der es nicht mehr wissen will). Anders als die BRD hat die DDR niemals Gebietsansprüche gestellt, keine faschistischen Organisationen geduldet, nie versucht, ein anderes Land zu regieren und zu annektieren, nie den Frieden gefährdet und nie Soldaten zum Kriegseinsatz in fremde Länder geschickt. Anders als die DDR hat die BRD dem Hauptfeind des Nazireiches weiterhin feindselig gegenübergestanden – die Regierung, mehr noch die Bevölkerung. Die Bundesrepublik und ihre Prokuristen hatten und haben keinen Grund, sich gegenüber der repressiven DDR dicke zu tun. Die Geschichte staatlicher und nichtstaatlicher Repression in der BRD ist noch aufzuarbeiten. Die haßerfüllte, vernichtungsgierige Hysterie, mit der der deutsche Untertan auf jede ihm fremde Lebensregung reagiert, ist die Perpetuierung des deutschen Faschismus in den Alltag. Die deutsche Gesellschaft hat nicht nur ein Regime von unvergleichlicher Niedertracht errichtet und geduldet. Sie findet auch nichts dabei! Ist es da so abwegig, sie unter Kuratel zu stellen, die geschlossene Abteilung anzuordnen?
Heiner Müller erklärte den repressiven Charakter des DDR-Regimes mit der Erfahrung des deutschen Faschismus – die habe doppelte und dreifache Sicherung erforderlich erscheinen lassen. Heiner Müller hatte als DDR-Schriftsteller große Schwierigkeiten mit der Bürokratie, ebenso wie die angeblich so „linientreuen“, wie Wolfgang Langhoff, Ernst Busch, Hanns Eisler und Peter Hacks, der die Mauer frech-ironisch elogierte. Das Mißtrauen, das sich aus der Furcht vor einer Renaissance des deutschen Faschismus erklären läßt, lähmte die Kreativität, Phantasie und Originalität, die für den Aufbau des Sozialismus ebenso unentbehrlich war wie für seine Verteidigung. „Warum mißtraut ihr denen, die diesen neuen Staat wollen?“ fragte Brigitte Reimann. Wenn an anderer Stelle in diesem Heft davon die Rede ist, daß der Kapitalismus nur dadurch existieren kann, daß er die Grundlagen seiner Existenz vernichtet, so ist über den Sozialismus in der DDR Ähnliches zu sagen – bloß, daß es sich dabei nicht um eine Gesetzmäßigkeit handelt!
Die DDR ist – jetzt in der historischen Betrachtung – zu verteidigen – wohl wissend und nicht verschweigend, daß ein Leben in der DDR für die Autoren dieser Zeitschrift und die meisten ihrer Leser schwer zu ertragen gewesen wäre.
Gerhard Zwerenz schrieb 1966: „Ob man es schätzt oder nicht, Walter Ulbricht stellt ... die Kontinuität der deutschen revolutionären Tradition dar; und indem er sich einen Staat schuf, vereitelte er alle westdeutschen Bestrebungen, die revolutionäre Tradition der Linken in Deutschland zu eliminieren.“ Im selben Jahr schrieb Sebastian Haffner: „Vielleicht liegt aber gerade darin Ulbrichts historisches Verdienst um Deutschland: den Mord an der deutschen revolutionären Tradition, der Hitler schon einmal zwölf Jahre lang gelungen schien und den das deutsche Bürgertum gar zu gern aus der Hitlerschen Hinterlassenschaft herübergerettet hätte, verhindert zu haben.“ Und er fügte hinzu: „Sogar unter deutschen Kommunisten gibt es viele, die lieber unter einem Liebknecht; Thälmann oder Harich wieder einmal die tragisch-hilflose Niederlage des unbefleckt Guten erlebt hätten als unter Ulbricht den nüchtern-unbegeisternden Erfolg des nicht mehr ganz so unbefleckt Guten.“ Als die Mauer fiel, wuchs die Irrationalität und die Aggressivität der deutschen Gesellschaft nach innen und außen, und damit auch die Gefahr, daß Deutschland aus eigener Kraft die europäische Ordnung aus den Angeln heben kann. Pogrome hat es unterdessen gegeben. Wem an der nüchtern-unbegeisternden Errungenschaft nichts lag, hat nicht verstanden, was 1989 auf dem Spiel stand. Wenn man den schlechten Sozialismus nicht verteidigt, kriegt man keinen besseren.
Die Tragödien, die mit der Berliner Mauer verbunden waren, sind nicht zu leugnen und nicht zu bagatellisieren, auch nicht dadurch, daß denen, die an der Berliner Mauer ihr Leben verloren, die Verantwortung, die jeder Mensch sich selbst gegenüber hat, fehlte. Jeder war gewarnt, jeder kannte die Gefahr, und nicht jeder kann von der Sehnsucht nach Freiheit getrieben gewesen sein. Doch der gewaltsame Tod macht jeden Vorhalt bedeutungslos. Ich neige zu der Analogie: Jedes deutsche Todesopfer des Zweiten Weltkrieges ist denen anzulasten, die diesen Krieg angezettelt haben. Für alle, die an der Mauer starben, sind die anzuklagen, die den Kalten Krieg angezettelt haben. Dem Kalten Krieg fielen gleich am ersten Tag 100.000 Menschen zum Opfer: durch den Atombombenabwurf in Hiroshima.
Nicht genannt wird, daß auch Polizei und Grenzschutz der Bundesrepublik mit Schußwaffen ausgerüstet sind, und daß bei illegalen Grenzübertritten an allen deutschen Grenzen von der Schußwaffe Gebrauch gemacht wurde. Auch an der deutsch-österreichischen Grenze wurden Menschen erschossen. Nicht genannt werden auch die Grenzsoldaten der DDR, die im Dienst getötet wurden.
Es ist scheinheilig, zu erwarten, daß die Grenze zwischen zwei Systemen so durchlässig sein sollte als würde man nach Venlo zum Einkaufen fahren, oder als hätte der Weg von Ost- nach Westberlin so unkompliziert sein können wie der Weg von Hochfeld nach Wanheimerort. Das 20. Jahrhundert war nicht so.
Darf man, kann man, soll man, muß man Leute daran hindern, das Unvernünftige zu tun, etwa: Menschen an den Markt zu verraten? Darf man, muß man im Atomzeitalter der Unvernunft Freiheit gewähren? Dazu möge jeder sein Gewissen befragen. Ob das gewaltsamste Jahrhundert der Geschichte vielleicht schon das beste war, muß sich erst noch herausstellen.
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